9
Mai
2018
26

HYSTERIE!!!!

Da hab ich mir doch glatt mal wieder ein kleines Stück Gelassenheit aus Fernost mitgebracht und schaue mit diesem „It´s not my Party“-Blick auf die Heimat. News & Stories, wie dem geistigen Dünnschiss irgendeines Nation-spaltenden „Battle-Rappers“, einer EU-Verordnung die durch die Timeline lärmt, aufgerissene-Augen-Emojis, „Photography is dead!“, das-geht-gar-nicht…Die Ferne destilliert all das hervor, was woanders anders ist und daheim mit dem Abstand einer fernöstlichen Reise irgendwie seltsam wirkt. Heute: Hysterie (hier bitte die Arme nach oben werfen).

Endlich angekommen im Überfluss, mangelt es uns im Füllhorn der Möglichkeiten an einer Sache nicht: hysterische Meinungsepidemien. Jeder geistige Auswurf kriegt seinen eigenen Hashtag, jedes, in irgendeiner irrelevanten Facebook-Gruppe gezüchtete Problem seinen 100-Seiten Thread. Erigierte Egos auf der Jagd nach der anderen Meinung Anderer, durchkämmen die Timeline und drücken jeder Verlautbarung im Amoklauf der Gefühle ihre Tonalität auf. VERSALIEN! WIR BRAUCHEN MEHR VERSALIEN!! Oder es mit Sibylle Berg zu formulieren: „Meinungen sind die Religion der noch Dümmeren.“ 

Dieses wilde Gekreische um alles was nicht regelkonform ist, dieses übermoralische Inhaftieren von Gedanken, das soziale „entfreunden“ Andersdenkender erinnert mich an düstere Zeiten und die Worte meiner Großmutter: „Es kommt alles immer wieder, mein Junge“. Hatten wir das alles nicht schon mal hinter uns gelassen? Bei dem, was man momentan moralisch alles falsch machen kann, möchte man nur noch still in der Ecke sitzen, Rolf Zuckowski hören und sich dabei ertappen, der Sehnsucht nach Blumenkränzen im Haar nachzugeben, mit 20 Leuten im Kreis zu stehen und wohl-gendernd Kumbaya zu singen. 

Wo ist eigentlich unsere kiffende 68er Gelassenheit geblieben, die zugedröhnt-visionär seinerzeit das Jahrzehnt abschloss? Oder die 70er Coolness, als wir im Auto – nicht angeschnallt – auf dem Weg zur Ostsee zwischen den Vordersitzen knieten und Papa in dieser Zeit eine ganze Schachtel Zigaretten schaffte, hiernach die 13jährige Nachbarstochter am FKK vor mir stand, ich ihr auf die Brüste und sie mir auf den Penis starrte, lachend… ganz ohne anschliessende Debatte… Und die 80er erst: Mach kaputt, was dich kaputt macht… Punk und „We can be Heros – just for one day… die Tage flossen… sie ratterten nicht.

Wann hat uns dieser Ego-beladene, deutsch-bleierne Bedeutungseifer eigentlich überrannt und den Spießer in uns gewinnen lassen? Ist uns die Leichtigkeit im Denken zu groß geworden, so dass wir sie nun wieder kaputt machen müssen? Sehnen wir uns gar nach geistigen Grenzen, weil die Komplexität der Welt unseren biologischen Verstand nunmehr überholt? Egal wie – eines sollten wir uns eingestehen: Wir waren mit der Verbreitung des Internets und in der Folge mit der Einführung von Kommentaren mental nicht ausreichend vorbereitet und vergaßen bei all dem Spaß an der neuen Technologie ein kluges und wohl-kuratiertes Korrektiv.

Vielleicht sollten wir uns auf unseren Avataren wieder mit Sicherheitsnadeln am Ohr schmücken, um Spießer von Punks zu unterscheiden zu können. Hat uns Punk damals nicht irgendwie weiter gebracht? Sollten wir der Hysterie wirklich diese Chance geben und schauen, wohin sie uns führt? Ich glaube wir kennen die Antwort.

MerkenMerken

21 Responses

  1. Tina

    Hallo Steffen,

    ich komme gerade aus Schottland zurück. Drei Wochen mit dem Motorrad reisen, wandern, auf die See und die Berge und in die Weite starren. Nichts denken, kein Handy, kein Internet… Sturm auf den Orkneys und Kartenspielen im Pub. Heute wieder hier… wo war noch die Ausfahrt, nach der wir uns irgendwie alle sehnen?

    LG Tina

  2. Carsten

    Moin, Steffen,
    bin selbst grad aus dem Urlaub zurück und kann das gut nachvollziehen. Frag‘ mich nur warum alle dem Internet die Schuld geben. Ich kann selbst entscheiden was ich lese, höre und sehe und was nicht. Viel mehr nerven mich die Menschen, denen ich jeden Tag live begegnen muss und die mir ihre Eigenarten aufzwängen. Die Drängler, Besserwisser, Gutmenschen, Erbsenzähler und so weiter. Die gab‘ es aber schon immer und die wird es immer geben, egal welches Jahrzehnt grad aktuell ist. In den 60ern gab es die Revoluzzer, in den 70ern die RAF, in den 80ern die Punks gegen die Rocker und in den 90ern DJ Bobo. Da ist es doch schön, dass es noch Regionen gibt in denen die Menschen sich selbst genug sind und sich gegenseitig zu schätzen wissen. Man sollte die einfach nur mal öfter besuchen.
    Grüße, Carsten.

  3. Janosch

    Hat uns der Punk weiter gebracht? Nicht wirklich. Schließlich stecken in den meisten Punks größere Spießer als in so manchen Bankangestellten. Klingt komisch, ist aber leider wahr.
    Was dieses ganze Internetzeugs angeht greife ich mal auf Prof. Aufenanger zurück. Der gute sagte mal dass dieses ganze digitale Gedöns nur ein Werkzeug ist. Man kann es nutzen um Ziele zu erreichen. Muss es aber nicht. Und wie effektiv man letztlich ist, hängt auch wieder ganz davon ab wie man damit arbeitet.

    Können wir gerne aber auch ausführlicher besprechen. Beim nächsten Punkkonzert und einem Bembel Äppler. (Was übrigens ernst gemeint ist 😉 )

  4. Moin Steffen,

    großártige Worte und ja uns Deutschen fehlt die Gelassenheit.

    Wenn man viel durch die Welt reist dann stellt man in der Tat fest das es uns an Problemen „mangelt“. Dies führt dazu das wir uns welche suchen und die EU dann noch welche aufstellt damit es nicht langweilig wird.

    Lass uns mal sehen wie es wirklich wird. Von all dem Geschwätz glaub ich noch nicht dran das es für uns fotografen so schlimm wird wie befürchtet.

  5. Wanderer

    Interessant an Artikeln über/zum Internet oder sozialen Medien: sie finden immer viel Resonanz, aber es ändert sich nichts. Artikel mit Fotos, über Fotografie werden dagegen leider sehr viel weniger kommentiert.

  6. Hach ja, das Internet ist an allem schuld. Meiner bescheidenen Meinung nach ist das falsch.

    Es geht uns zu gut. Wir haben keine (echten) Probleme mehr. Und wer keine Probleme hat sucht sich oder macht sich welche. Ohne Probleme haben wir keine Aufgabe und keine Darseinsberechtigung – also schaffen wir uns diesen Zustand selbst.

    Wir lösen die größten Probleme und ignorieren die Kleinen so lange, bis die Großen gelöst sind. Doch was passiert wenn es gar keine großen Dinge zu lösen mehr gibt? Die Leute springen auf jede Kleinigkeit auf, werden pingelich, empfindlich…

    Das gab es schon immer in Form des nervigen Rentners, der den ganzen lieben Tag aus dem Fenster schaut und Falschparker aufschreibt. Er hat halt nichts anderes zu tun. Wer mit so einer Person versucht zu diskutieren findet die selbe Diskussionskultur (mit weniger Jugendsprache) wie im Internet.

    Wenn man sich in Social Media einfach alle Personen als aus Fenster guckende Rentner vorstellt – dann mach das ganze gleich viel mehr Sinn. Die Personen sind ja aber nicht nur im Internet so. Aber dort sieht man es am schönsten…

    Schönen Feiertag an alle!

  7. „The good old times of tomorrow are now…“ proklamierten die Dissidenten in einem ihrer Songs Anfang der 80er. Möglich, dass du damals auf der anderen Seite standest. Aber im Grunde ist es immer nur ein kleiner Schritt. in

  8. Udo van den Heuvel

    Ich denke, dass Facebook nicht wirklich die Realität wiedergibt. Erstens sehen wir alle „unser Fenster“ in die Facebook’sche Welt und zweitens ist dieser Mix aus Katzenvideos, Selfies, Schrei nach Anerkennung und Kalendersprüchen weit weniger weitreichend, wenn man da gesunde Filter für sich findet.
    Unsere Gesellschaft scheint immer mehr zu individualisieren – was einem mehr an „ich“ und einem weniger an „wir“ gleichkommt. Damit überlässt man das Spielfeld der sozialen Verantwortung derer, die sie wahrnehmen. Und diese machen dann die Regeln, die unser Korsett immer enger werden lassen. Jahr für Jahr wird geregelt… Jahr für Jahr wird es enger um uns herum.

    Die Welt wird also komplizierter. Viele verstehen sie nicht mehr – und suchen deshalb irgendwie nach Antworten. Dass sich nun jeder berufen fühlt, eine vermeintliche „Lösung“ zu präsentieren und sich an der Diskussion zu beteiligen, liegt in der menschlichen Natur.

    Dieter Nuhr bringt das alles wunderbar auf den Punkt. Wir sind von „breaking News“ umzingelt, über sämtliche Infokanäle werden wir minütlich über das schlechte in der Welt informiert. Serviert mit bunten Bildern, garniert mit Meinungen, die wir nicht überprüfen können, wird unser Weltbild tagtäglich geprägt. Das beschwert. Der Preis ist der Verlust der Unbekümmertheit. Das gab es früher nicht. Genauso wie die Tatsache, dass jeder eine Kamera immerwo dabei hat, die in der Lage ist, den Handybesitzer seine „Breaking News“ generieren zu lassen. Wie sähe es da heute am FKK Strand aus?

    Moderne Technologien sind eine Riesenchance – machen uns aber auch bequem. Früher war der Führerschein erforderlich, wenn man kommunizieren wollte. Also hat in jeder mit 18 haben wollen, vom Auto geträumt und auf dieses Ziel hingearbeitet. Daraus resultierend hatte man seinen persönlichen Horizont erweitert und ganz nebenbei die Welt erkundet. So wie du, lieber Steffen. Es ist gut, dass du deine Erfahrungen dabei weitergibst und die Menschen etwas „rüttelst“. Solche Typen braucht es. Danke.

  9. Benjamin

    Schöner Text. Das internet treibt halt auch sonderbare Blüten. Schon immer gab es in jedem Dorf den seltsamen Sonderling. Nur waren die stets isoliert für sich. Durch das Internet heute können sie sich austauschen. Anstacheln. Gegenseitig hochschaukeln. Wähnen sich im Recht und in der Mehrheit.
    Unangenehm…

  10. Martin

    Gibt es was, das mehr Spießertum aufzeigt, als der Satz „früher war alles besser“?
    Vielleicht noch „typisch deutsch“ und „in xyz ist es ganz anders als hier“.

    Wir werden älter und ich mag heute weder die Brüste der ehemals 13-Jährigen anstarren, noch mir von ihr heute unbefangen auf den Penis gucken lassen.

    Erstens ist das heute, für mich, alles nicht mehr so ansehnlich. Zweitens ist es auch keine Entdeckung mehr. Und drittens wird mir essen sowieso immer wichtiger.

    Das Geschnatter im Internet ist für mich dasselbe wie das, was ich schlaftrunken oder auch ausnüchternd, morgens vor meiner Wohnungstür im Treppenhaus, von Else Kling und dem Rest der Hausältesten zu hören bekam. Der einzige Unterschied ist heute, dass sich wohl alle Treppenhäuser dieser Welt vor meiner Wohnungstür befinden.

    Aber das Gemecker und Gejammer ist dasselbe.

    Und der angenehme Singsang auf bestimmten Plätzen im Ausland, ist letztlich auch nur das Treppenhaus auf Italienisch, Suaheli oder auch vietnamesisch.

  11. Ich würd´s knallhart auf die Technologie schieben. Die Aussage „Das Internet setzt sich nie durch“ … war vielleicht nur eine symbolische Notiz, die das vollkommende Verblöden und Abstumpfen ankündigen sollte. Aber man kann es eigentlich auch ignorieren und wieder zu den Wurzeln und den Joints für sich selbst finden. Danke Steffen, für deine Worte. Ich bin wieder für kiffen, Heros und Penis starren … oder Brüste … egal.

  12. unglaublich, wie ich mich selbst bei diesem Text als Spießer überführt habe. Und wie groß mein Verlangen wurde, mir eine riesige Sicherheitsnadel quer durchs Ohr zu stechen..?

    Steffen, großartige Worte. Ich verfolge deine Arbeit nur sporadisch. Aber wann immer du mir über den Weg läufst, sympathisiere ich mit dir.. Vielleicht hauen wir uns irgendwo und irgendwann mal gemeinsam ne Sicherheitsnadel rein.

  13. Etwas drastisch formuliert, aber ich stimme zu.

    Zähle mich nicht zur „Früher war alles besser“ Fraktion, aber Tugendterrorismus, Kleingeistigkeit und Spießertum scheinen überhand zu nehmen. Sehe ich mir die Posts über die DSGVO an inkl. der randvollen Kommentarspalten, kann ich nur noch den Kopf schütteln.

    Ich habe letztes Jahr Sibirien bereist, ebenfalls von dort ein kleines Stück Gelassenheit mitgebracht und das werde ich gut hüten!

    LG aus IBK

  14. Lieber Steffen,

    wäre es nicht eine probate, gelassene, punkige Reaktion auf die DSV-Dingsbums zu reagieren, in dem man eben NICHT über sie schreibt 😉 ?

  15. Jörg

    Hallo und danke für den super Text. Bin 68 geboren, gehörte damals nicht zu den Punks – habe aber gerne Deutschen Punk gehört. Und ja – wir sehen vieles einfach viel zu Eng. Hatte das Glück in den letzten 2 Jahren 2 x in Südafrika sein zu dürfen, nicht als typischer Touri sondern bei Einheimischen in den Familien. Denen geht es in vielen Bereichen schlechter und ich rede nicht vom finanziellen sondern z.b von der andauernden Wasserknappheit. Wir sollen mehr Wasser verbrauchen damit unser hochtechnisiertes System nicht verschlammt und sie haben wegen ausbleibendem Regen einfach keins.

  16. Roland Eising

    Danke Steffen.
    Seit Wochen überlege ich, wie ich das sagen kann, was du hier geschrieben hast…
    So gut und so kurz hätte ich es wahrscheinlich nicht gekonnt.
    Und…, wenn man’s dann gelesen hat, die eigene Empörung über all das aufkommen spürt und wieder einmal kommentieren will…..: erstmal sacken lassen.
    Es sind nicht immer nur die anderen. Manchmal ist man es auch selbst

  17. Ralf H. Badera

    „Wir waren mit der Verbreitung des Internets und in der Folge mit der Einführung von Kommentaren mental nicht ausreichend vorbereitet und vergaßen bei all dem Spaß an der neuen Technologie ein kluges und wohl-kuratiertes Korrektiv.“
    Ich denke, das Internet hat die soziale Degeneration nur beschleunigt, nicht hervorgerufen oder gar ausgelöst.
    Ich frage mich, wie es passieren konnte, dass Kotzbrocken-Verhalten salonfähig wurde. Theorien dazu habe ich durchaus und sie umfassen mehrere Gründe und Aspekte. Jedoch zu viele, sie hier ausgiebig aufzuführen und zu erläutern. Psychologen können das sicherlich fachmännisch und glaubwürdiger erklären.