Meine Einschätzung zum Brass Petzval 85mm der Lomography
Und wieder mal schreibe ich an einem Artikel, von dem ich jetzt schon weiss, welche Art von Diskussionen folgen werden. Diesmal jedoch törnt mich das mögliche Gemecker nicht so sehr ab – denn die Produktion des Brass Petzvals der Lomography wurde durch eine Kickstarter Kampagne mit über 1.3 Mio $ finanziert (300.000$ über dem Ziel – wohoo!) – es hat also schon genug Abnehmer, um den „Break Even“ zu erreichen. Jeder, der das Projekt mitfinanziert hat, glaubte an die Idee, wollte daran teilhaben und um eines schonmal vorweg zu nehmen: Ich könnte mich sowas von in den Arsch beißen, dass ich beim Kickstart keine 1.100,-$ „gepledged“ habe, um ein Petzval mit eigener Gravur zu bekommen… grrrrrh.
Von vorn: Josef Maximilian Petzval (1807-1891) war ein slowakischer Mathematiker, dessen wohl bekannteste Leistung das Petzval Porträtobjektiv war. Dieses erste Porträt-Objektiv der Fotogeschichte wurde von ihm im Jahre 1840 in Österreich konstruiert. Von Voigtländer produziert und weltweit vertrieben, wurden seinerzeit in den ersten 20 Jahren, 60.000 Exemplare an die Fotografen dieser Welt verkauft. Ein stattliches Sümmchen, bedenkt man, dass die Fotografendichte Mitte des 19. Jahrhunderts eine andere war, als heute. Und so wurde die Porträtfotografie des vorletzten Jahrhunderts vom Look des Petzvals bestimmt.
Tja, und nun – mitten im Jahr 2014 baut Lomography dieses Objektiv einfach mal nach! Und zwar für unsere modernen DSLR´s. Doch bevor wir nun alle gemeinschaftlich in die Hände klatschen und die Lomography zu recht feiern, sind wir zunächst ehrlich zu uns selbst: An heutigen Maßstäben gemessen ist das Ding – Entschuldigung: Mist! Es ist schwer, unpräzise, klobig, hat einen manuellen Fokus (Hallo!!??), welchen man zudem über ein umständliches Rädchen an der Außenseite (mehr schlecht als recht) versucht so zu verstellen, dass wir eine Fokus-Ebene finden. Der Schärfeabfall an den Rändern ist abenteuerlich – sagte ich „Schärfe“-Abfall? Ja — „Abfall“ trifft es! Scharf ist bei dem Ding relativ… Die Schärfe des Brass Petzvals beginnt bei Offenblende mit dem Attribut „Soft“ und kippt stark ins „Matschige“, sofern man das Motiv überhaupt trifft. Scharf wird es erst durch gehöriges Abblenden (bei meinem Exemplar ab f4). Die Blende wird umständlich über Steckscheiben verändert und beim Betrachten des Bokehs wird dir schwindelig… Wozu also hat man dieses Mistding von einem Objektiv nachgebaut, um es auch noch an hochgezüchtete DSLR´s anzuflanschen? Die Antwort gibt der Hund auf die Frage, warum er sich an den Eiern leckt: Weil er es kann und es ihm Spaß macht! So!
Ich bekam eines der ersten Exemplare von der Lomography zum Testen – was für eine Ehre! Und bereits nach dem ersten Foto überlegte ich mir die wildesten Geschichten, welche ich den Jungs und Mädchen dort unterjubeln würde, um die Linse nie wieder hergeben zu müssen! Das Ding hat alles, was man an einem Objektiv nicht will (ihr erinnert euch: schwer, klobig…) – und ich habe ewig gebraucht, um ein halbwegs scharfes Foto damit zu machen (der wilde Schärfe-Abfall verhindert, das man Dinge am Bildrand scharf stellen kann, haha). Zudem ist das Fokusmütterchen ein wenig zu unpräzise, als dass man damit wirklich „wiederholbare Ergebnisse“ hinbekommt. Aber wisst ihr was? Drauf geschissen! Ich habe noch nie mit einem Objektiv soviel Spaß gehabt, wie mit dem Lomo-Petzval und noch nie habe ich ohne jede Nachbearbeitung „out of Cam“ so geile, analog-anmutende Ergebnisse erzielt. Das Bokeh tanzt Wiener Walzer und fordert dein Herz zum nächsten Tanz auf. Wenn man es erstmal gecheckt hat, wie man mit dem Objektiv umgehen muss, kannst du es morbide und düster aber auch wild und leidenschaftlich einsetzen. Es ist nicht zwingend erforderlich immer wieder mit „Swirly Bokeh“ zu fotografieren – das wäre auf Dauer auch zu langweilig. Sofern der Hintergrund nichts hergibt, ist da nämlich auch nichts „swirly“. Man kann den Schärfeabfall auch herrlich anders kreativ einsetzen… tausend Ideen in einer Hand. Eines ist das Lomo-Petzval mit Sicherheit nicht: langweilig … Und wenn man mich fragen würde: Ich will auch ein 24er und ein 50er!! – Scheiß drauf, dass es dann kein Porträt-Petzval im klassischen Sinne wäre, aber ich mag die Idee! Meinen Segen habt ihr!
Das Lomo-Petzval ist sicher nichts für Ziegelsteinmauer-Fotografen, die Schärfe und Verzeichnungsfreiheit suchen. Fotografen mit Experimentiergeist, die Unschärfe als Gestaltungsmittel einsetzen und auf der Suche nach einem bestimmten Look sind, werden mit dem Petzval eine Riesen-Spielwiese bekommen und ihren Spaß haben. Der Preis für dieses Abenteuer geht für mich völlig ok und ich würde mich freuen, wenn dies nur der Anfang einer neuen Objektiv-Gattung ist („Irgend-ein-glas-was-spaß-macht-aber-nicht-absurd-und-billig-daher-kommt“)… beim nächsten Lomo-Kickstarter-Projekt bin ich in jedem Fall dabei!
Noch ein paar Facts zum Schluss:
– Brennweite: 85mm
– Blendenumfang: f2.2 -f16 (durch Steckblenden ablenkbar)
– weitere „Trick“-Steckblenden im Paket (für z.B. Sterne- oder Tropfenbokeh)
– Korpus aus echtem Metall
– Herstellung in Russland durch die Firma Zenit
– wahlweise mit Nikon- oder Canon Bajonett
– keine elektronische Übertragung der Blende (also alles schön manuell)
– Auslieferung in wertigem Karton mit schönem Lederetui
– Verfügbar ist das Petzval ab Ende August 2014, Vorbestellungen hier
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