3
Dez.
2014
72

Kreativität ist kein Talent

Nun sitze ich in meinem Kämmerlein und finde die Ruhe, die ich brauche, um mich für die erste Mindclass vorzubereiten. Gar nicht so einfach nach all dem Trubel in letzter Zeit. Ich bringe all meine Gedanken zu Papier und verliere mich immer wieder in kleinen Beobachtungen. Gerade eben hing ich mit meinen Gedanken am heutigen Morgen im Hause Böttcher. Mein Sohn (9) hat Frühstunde und meine Frau ist mit ihm schon unterwegs. Mein Töchterchen (7) und ich zelebrieren das tägliche Morgenritual aus „Ermahnen“ und „Kuscheln“. Sie hatte gerade ihre kleine Überraschung aus dem Adventskalender gezogen und läuft mit strahlenden Augen durch das Haus…

Ich: Komm Süße, mach dich fertig, wir müssen los!

Sie: Nein, ich will jetzt spielen.

Ich: Nein, erst, wenn du angezogen bist!

Sie: Ich will jetzt spielen!

Ich: Ach komm, du weisst, dass das nicht geht. Zieh dich an.

Sie: Nö!

Ich: Ich werde gleich böse!

Sie: Drück mich!

Ich: ok, aber dann ziehst du dich an!

Sie: Nö!

Ich: …

Wir wissen wie das endet.

Und wisst ihr was? Ich sitze hier – 5 Stunden später – und ärgere mich die Pest, dass ich sie heute morgen unterbrochen habe. Was will ich denn den Leuten hier in der Mindclass Begeisterungsfähigkeit, Spontanität, und Hingabe erklären, wenn ich meine Tochter sozialisiere, statt ihr Raum für ebendiese Dinge zu geben. Vielleicht wäre sie zu spät zur Schule gekommen, aber was hätte ihr diese Extra-Zeit hier zu Hause alles gebracht? Es würde ihre Kreativität trainieren und sie glücklich machen. In der Schule bringt man ihr vor allem eines bei: kein Kind mehr zu sein. Ich habe manchmal Angst, man „verlernt“ ihnen dort mehr, als das man ihnen beibringt. Klar, mir ist es auch wichtig, dass meine Kinder Pünktlichkeit lernen – das ist für mich eine Form des Respekts… aber ich glaube immer öfter: Lehrer könnten wahrscheinlich mehr von Kindern lernen, als umgekehrt. Vor allem hinsichtlich eines gewissen kreativen Mindsettings.

Kinder können sich für alles begeistern und sind maßlos kreativ. Sie kennen keine „Wenn´s“ und „Aber´s“, sie genießen was sie tun und leben mit Hingabe im „Jetzt“ – so wie wir es eigentlich auch tun sollten. Sie verlieren sich im Spiel und kennen dabei kein „Gestern“ und „Morgen“. Sie haben noch keine schlechten Erfahrungen gemacht und sind deswegen weniger Misstrauisch gegenüber Neuem. Ich bin immer wieder beeindruckt, in welcher Geschwindigkeit sie Trauer und Wut überwinden können. Du kannst mit ihnen schimpfen und dabei sicher sein: in zehn Minuten sitzen sie wieder auf deinem Schoß und puhlen dir im Ohr herum. Wenn Kinder andere Kinder fragen „Willst du mit mir spielen“ und die Antwort ist „Nein“, dann ist das für sie keine Katastrophe. Sie fallen dadurch nicht wie wir Erwachsene in eine tiefe Depression. Sie akzeptieren die Antwort und wenden sich einer neuen Möglichkeit zu. Sie sind so herrlich spontan! Wenn ich meinen Kindern sagen würde: „Kommt, ich habe Bock in den Harz zu fahren“, würden sie sofort jubelnd ins Auto steigen und mitkommen. Sie sind mit dieser wundervollen Neugierde auf die Welt gekommen, die bei vielen Menschen im Laufe des Lebens immer weiter verkümmert. Und ich bin wahnsinnig glücklich, diesen Spiegel Tag für Tag vorgehalten zu bekommen.

Ist es nicht so, das wir im Laufe unsere Lebens immer mehr Dinge verlernen, die das Leben eigentlich lebenswert machen? Nein Leute, Kreativität ist kein Talent. Sie ist keine Gabe, die nur wenigen verliehen wird. Wir kommen mit ihr auf die Welt und verlernen sie im Schlimmsten Fall – der eine mehr, der andere weniger. Ich glaube nicht, dass die Natur uns mit all diesen wundervollen Gaben ins Leben schickt, damit wir sie wieder „ab-sozialisiert“ bekommen.

Ich gehe gern das Risiko ein, belächelt zu werden. Aber schaue ich auf meine Kinder wird mir eins klar: Ich sollte jeden Tag so leben, als wäre er der erste meines Lebens. Voller Neugier und mit der Unschuld eines Kindes. Frei von Zwängen und Vorurteilen.

 

Foto von Kathrin Stahl